Mittwochs-Interview: Für das eigene Selbstwertgefühl ist es wichtig, sich eine Stimme zu verschaffen
Dieses Interview erscheint im Rahmen der Kampagne „#DeinRatZaehlt!“ und wurde vom Projekt „Politische Partizipation Passgenau!“ geführt.
Mit 19 Jahren ist Hildegard Mang erkrankt. Sieben lange Jahre musste sie warten, bis die Diagnose feststand: eine entzündliche rheumatische Erkrankung. Das Ende der Suche nach dem Ursprung ihrer Beschwerden war zugleich der Anfang für ihr Engagement in Politik und Selbsthilfe. So gründete sie mit drei Mitstreiter*innen und der Unterstützung des Landesverbands der Deutschen Rheuma-Liga eine Arbeitsgemeinschaft für den Kreis Coesfeld. Seither berät Hildegard Mang Betroffene und unterstützt sie im Umgang mit der Diagnose „Rheuma“, gibt Workshops und leistet Aufklärungsarbeit. Als „Patient-Partner“ informiert sie zudem angehende Ärzt*innen und medizinisches Fachpersonal und hilft so aktiv mit, die medizinische Versorgung von Rheuma-Patient*innen zu verbessern. Seit über zehn Jahren ist Hildegard Mang zudem in der Kommunalpolitik aktiv. Als Mitglied der Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen in Dülmen setzt sie sich dafür ein, dass alle Menschen in der münsterländischen Stadt gut leben und mitmachen können.
Frau Mang, wer engagiert sich in der Dülmener Interessenvertretung für Menschen mit Behinderungen?
Das ist sehr gemischt. Wir haben aus unterschiedlichen Selbsthilfekontexten Aktive. Die meisten haben selbst eine Behinderung oder sind Angehörige. Wir kommen auf zirka 12 Personen, wenn alle es zu den Treffen schaffen. Außerdem haben wir kürzlich beschlossen, dass wir uns mit der Arbeitsgemeinschaft Mobilität im Alter zwei Mal im Jahr treffen. Wir haben im Grunde die gemeinsamen Probleme und können so besser zusammen an Lösungen arbeiten.
Wie genau sieht Ihre Arbeit in der Interessenvertretung aus?
Wir haben bei der Stadt Dülmen die Möglichkeit, als beratende Bürger*innen an Ausschusssitzungen teilzunehmen. Das ist eine zentrale Aufgabe. So können wir unsere Themen direkt in die Politik tragen. Dazu kommen zwei Mal im Jahr Ortsbegehungen mit der Verwaltung. Hier können wir auf Barrieren hinweisen. Das wird aufgenommen und protokolliert. Und wenn wir Glück haben, wird es auch angepasst.
Also ist es auch vorgekommen, dass sich nach den Begehungen nichts geändert hat?
In vielen Fällen konnten Änderungen zumindest nicht sofort umgesetzt werden. Da müssten wir als Interessenvertretung vielleicht auch hartnäckiger nachfragen. Allerdings arbeiten wir alle ehrenamtlich. Da fehlt einfach auch die Zeit. Grundsätzlich ist es aber positiv, dass die Stadt offen ist und versucht, uns und unsere Belange einzubeziehen.
Wir hatten bei der letzten Ortsbegehung beispielsweise darauf hingewiesen, dass die Fahrräder so parken, dass Rollstuhlfahrer und Blinde Schwierigkeiten haben, ungehindert durchzukommen. Da sind Maßnahmen getroffen worden: Die Fahrradständer wurden zum Teil umgestellt und es gab einen großen Artikel in der Tageszeitung, der auf die Problematik aufmerksam machte und auch warnte, dass das Ordnungsamt jetzt häufiger dort kontrolliere.
Aber es gibt noch oft genug andere Beispiele: Wie zum Beispiel, dass aus ‚normalen“ Parkplätzen einfach mal eben Behindertenparkplätze gemacht werden, die dann natürlich viel zu eng sind. Da befindet man sich als Rollstuhlfahrer*in dann direkt auf der Straße und das ist gefährlich. Doch hier scheinen manchmal Blumenkästen am Gehweg wichtiger zu sein als Barrierefreiheit.
Was würde die Zusammenarbeit mit Politik und Verwaltung in Zukunft noch effektiver gestalten?
Ich denke, ein hauptberuflicher Behindertenbeauftragter, der sich mit der Rechtlage auskennt und in die Prozesse von Verwaltung und Politik eingebunden ist, wäre sehr wichtig. Der weiß, welche Themen man wo anbringt, welche Gremien und Ansprechpersonen relevant sind. Das empfinde ich als Ehrenamtliche sehr schwierig, hier den Überblick zu behalten. Das sind viele Instanzen und Regeln. Das ist manchmal sehr verwirrend.
Dazu kommt, dass wir als Interessenvertretung natürlich viele Absprachen und Diskussionen nicht mitbekommen. Als Beispiel: Die Rats- und Ausschussmitglieder tauschen sich vorab aus und bilden sich zu bestimmten Themen und Anfragen ihre Meinung. Man selbst bekommt das alles nicht mit. Da wäre eine Person, die hauptamtlich und näher angebunden ist, sehr hilfreich.
Ein Behindertenbeauftragte sollte also eine Verbindung schaffen zwischen den ehrenamtlich Aktiven und der Verwaltung und Politik?
Genau. Und er sollte die ehrenamtlich Aktiven beraten und unterstützen. Ihnen dabei helfen, ihre Anliegen erfolgreich in die Politik zu tragen und die Umsetzung zu begleiten.
Gäbe es noch weitere Punkte, die sich ändern müssten, damit die Belange von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen in der Politik noch mehr Beachtung fänden?
Ja, es bräuchte bei Politiker*innen und Verwaltungsmitarbeiter*innen mehr Verständnis, Sensibilität und Offenheit. Diejenigen, die planen und die Entscheidungen treffen, wie was gebaut oder umgebaut wird, sollten einfach mal so mutig sein und Räume mit Verdunklungsbrille und Stock in der Hand oder im Rollstuhl erkunden. Ich glaube, das würde bei vielen mehr Eindruck machen, als bloße Worte. Aber bei vielen ist die Hemmschwelle zu groß.
Umso wichtiger ist es, dass es Interessenvertretungen mit Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen gibt, die immer wieder ihre Wünsche und Belange einbringen?
Genau. Nur, wenn wir uns wirklich engagieren, haben wir eine Chance etwas zu verändern. Und dabei sollten wir keine Ängste haben. Was kann passieren: Entweder bleibt es so wie es ist oder es bewegt sich etwas. Klar gehen Nerven und Zeit bei der Arbeit drauf. Aber: Wenn man Erfolg hat, macht einen das auch stärker. Man wächst anhand der Aufgaben, die man hat. Gerade für Menschen mit Behinderung ist es wichtig, sich eine Stimme zu verschaffen. Gerade auch für das Selbstwertgefühl.
Und auch der Austausch mit anderen Menschen mit Behinderung ist für mich sehr wertvoll. Es ist eine Herausforderung, die verschiedenen Bedürfnisse unter einen Hut zu bekommen: Ein Blinder braucht bei einem Bürgersteig zum Beispiel zur Orientierung eine Kante und die Rollstuhlfahrerin verzweifelt dran. Hier den richtigen Weg für alle zu finden, ist eine Herausforderung. Es ist manchmal schwierig, aber es ist auch gleichzeitig interessant und das Miteinander lässt uns menschlich näher zusammenwachsen.
Noch schöner wäre es vermutlich, wenn sich noch mehr Menschen in den Interessenvertretungen beteiligen würden. Was meinen Sie, was hilft dabei, neue Mistreiter*innen zu gewinnen?
Mein Ansatz ist die persönliche Ansprache. Bei Seminaren, die ich im Rahmen der Selbsthilfearbeit als Trainerin durchführe, spreche ich oft Teilnehmer*innen an, wenn ich den Eindruck habe, es könnte sie interessieren. Ich erzähle ihnen dann von den Möglichkeiten, sich selbst aktiv zu beteiligen. Dabei bin ich auch selbst eine Art Vorbild: Ich stehe hier, weil ich mich ehrenamtlich engagiere. Wichtig und hilfreich finde ich auch passende Seminare. Die Rheumaliga bietet hier zum Beispiel Vieles an. Auch so kann man direkt die Angst nehmen. Viele denken nämlich zuerst: Das schaffe ich nicht, da bin ich nicht für geeignet. Im direkten Kontakt kann man diese Ängste schnell abbauen. Es geht also auch darum, erst einmal das Selbstbewusstsein zu bekommen. Der Gedanke: Ich selbst kann etwas bewegen. Betroffenen dieses Gefühl zu geben, ist auch Teil meines Engagements.