Katrin Langensiepen über ihren Weg ins Europaparlament: „Mach den Mund auf! Es wird niemand anderes für dich tun!”
Der Artikel erscheint im Rahmen der Kampagne „#DeinRatZaehlt!“ und wurde vom NetzwerkBüro Frauen und Mädchen mit Behinderung / chronischer Erkrankung verfasst.
Katrin Langensiepen wurde im letzten Jahr als erste Frau mit sichtbarer Behinderung ins europäische Parlament gewählt. Die Kolleginnen vom NetzwerkBüro Frauen und Mädchen mit Behinderung / chronischer Erkrankung NRW waren gespannt und wollten mehr wissen über ihre politischen Themen und Ziele. Im Gespräch erzählte Frau Langensiepen auch, wie sie zur Politik kam: In einer scheinbar ausweglosen Situation entschied sie, sich politisch zu engagieren. Sie trat bei den Grünen ein und ging in die Kommunalpolitik.
Mein Kampf, nicht irgendwo versenkt zu werden
“Das Thema ‚Menschen mit Behinderungen und Arbeit‘ hat mich in die Politik gebracht. Meine Arbeitslosigkeit, mein Kampf, nicht irgendwo versenkt zu werden, ließ mich politisch aktiv werden”, so fasst Katrin Langensiepen, die selbst mit einer seltenen Erbkrankheit lebt, ihren Weg in die Politik zusammen.
Der Anfang war für die heutige Politikerin aber nicht immer so eindeutig:
“Ich habe immer viel gemacht, aber immer überlegt: Was machst du beruflich? Immer diese Frage: Wer nimmt mich? Da waren Rückmeldungen wie: „Ja, ganz nett, aber…“ Und die Frage: Was kann man selbst auch leisten?
Ich habe mich so vorangeschleppt, war dann krank und habe das Abitur nur zum Teil gemacht, nämlich nur das Fach-Abitur. Ich habe mein Studium krankheits-, aber auch frustrationsbedingt, abgebrochen.
Ich habe überlegt: Was kann ich, was soll ich zuhause? So habe ich mir selbstständig etwas im Ausland gesucht und da auch gearbeitet. Nach China bin ich kostengünstig im Rahmen meiner schulischen Ausbildung gekommen. In Marseille war ich als Au-pair, um die Zeit zu überbrücken bis zur Sprachschule. Da war auch immer das Risiko: Wirst du akzeptiert? Schaffst du das oder knallst du damit voll gegen die Wand? Ich habe manchmal mit Bauchschmerzen im Flieger gesessen. Aber eigentlich hat es immer ganz gut funktioniert.
Nach meiner Fremdsprachenausbildung dachte ich: Ich muss mir jetzt einen Job suchen. Passend zur Wirtschaftskrise. Da ging es ja allen dreckig. Und du stehst da: Gut ausgebildet – so wie man das den jungen Leuten erzählt hat: Du musst ins Ausland. Du musst Praktika machen. Mach Erfahrungen, mach dieses und jenes und Bachelor und Master. Und wenn das alles ganz gut ist, kommt der Job automatisch.”
“2009 standen wir da, ich und meine ganze Generation, und dachten: Oh Sch…. “
Auch in der ersten Zeit nach der Ausbildung gab es viele Sackgassen für die Grünen-Politikerin, wie sie uns selbst erzählt hat:
“Ich habe mich also im Jahr 2009 viel beworben und ging zu einer Zeitarbeit-Agentur. Die hat mir Telefon-Center-Jobs angeboten für 5 Euro die Stunde. Jede Woche einen neuen Schicht-Plan. Nach 14 Tagen hat mein Arzt mich krank geschrieben und gefragt: Was machen Sie eigentlich beruflich? Ich habe also 14 Tage im Telefon-Center gearbeitet und war dann 4 Wochen krank geschrieben. Danach habe ich gesagt: Ich mach gerne alles, nur keinen Job im Telefon-Center mehr.
Und so stand ich wieder da und dachte: Und nun? Dann wurde mir gesagt. Sie können ja ins Ausland gehen. Aber da kam ich ja gerade her. Und wo sollte ich denn hingehen: Nach Spanien? Nach Irland? Wo sollte ich denn hin? Es war ja überall Krise.
“Du musst dir jetzt hier was aufbauen!”
Letztendlich hat die Politikerin dann für sich eine Entscheidung getroffen, die ihr Leben bis heute prägt:
“Schließlich habe ich mir gesagt: Du musst dir jetzt hier was aufbauen. Durch eine Maßnahme vom Job-Center konnte ich mit viel Glück ein Praktikum beim Radio machen. Das war toll. Ich habe drei Monate beim Bürgerradio Beiträge geschrieben.
Das war 2010. Als mir danach der X-te Telefon-Center-Job angeboten wurde, dachte ich: Du kannst etwas anderes als ein Headset gerade halten. Du musst selbstständig aktiv werden. Wenn es niemanden interessiert, was du machst, dann mach doch, was du willst.”
In die Parteipolitik ist die Politikerin vor allem durch ihren Ärger gekommen. Die Kommunalpolitik war für Katrin Langensiepen dann der nächste logische Schritt:
“Ich wollte ja nie einer Partei beitreten, aber dann kam noch Stuttgart 21, was mich geärgert hat. Dann bin ich an meinem Geburtstag, 2010, einer Partei beigetreten, den Grünen. Ein halbes Jahr später, im Jahr 2011, vor der Kommunalwahl hier in Niedersachsen, suchten die Grünen Leute. „Wir brauchen dich!“, postete der Ortsverband. Das hatte ich lange nicht gehört.
Dort bin ich hin gegangen und habe gesagt: „Guten Tag, ich bin hier die Neue, und will etwas gestalten. Ich möchte irgendwie aktiv sein und würde gerne kandidieren. Und die Grünen haben mich genommen.”
“Ich war die Frau, die so viele E-Mails verschickt hat: Zeit hatte ich ja!”
Im Alltag der Politik musste Katrin erstmal viel selbst auf den Weg bringen: Emails schreiben und Leute zusammentrommeln, so beschreibt sie ihre Arbeit:
“Im Jobcenter war man zufrieden, dass ich mich beschäftigt habe. Die waren froh, dass sie mich nicht vermitteln mussten. „Sie sind intelligent genug. Sehen Sie zu, dass Sie selber klarkommen“, habe ich einmal gehört, erzählt Katrin Langensiepen.
Sozialpolitik war damals nicht so das Spielfeld der Grünen. Aber ich hatte ja viel Zeit. Ich habe morgens um 8 Uhr den PC angeworfen und mich vernetzt, gearbeitet, getwittert, gepostet, gemacht und getan. Deshalb kannten mich viele irgendwann. Ich hatte den arbeitenden Ehrenamtlern immer die viele Zeit voraus. Ich habe sicher 8-9 Stunden am Tag gerödelt. Ich war vor Ort aktiv, in den Landes-Arbeitsgemeinschaften und habe mich bekannt gemacht. Außerdem hatte ich ja einen Wiedererkennungswert.”
“Mach den Mund auf! Es wird niemand anderes für dich tun!”
Was Katrin immer wieder gelernt hat: Wenn es keine*r macht, mach es selbst. Eine Chance, die sie immer wieder nutzte:
“Als ich herumgefragt habe, wie es mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechts-Konvention aussieht, empfahl mir jemand: Katrin, schreib doch mal Arbeitsgemeinschaften an und frag dort nach. Du kannst ja auch ein paar Leute zusammentrommeln. Das habe ich dann gemacht. Ich habe die sozialen Medien viel genutzt, habe viel gemailt und gefragt: Macht das jemand? Und wenn es keiner gemacht hat: habe ich es gemacht.
Nachdem ich 2011 in den Rat der Stadt Hannover gewählt worden war, konnte ich kommunale Erfahrungen machen. Parallel war ich immer auch in der Partei aktiv. Wenn du Zeit hast und mobil bist, dann kannst du an den Wochenenden auf Kongresse fahren und du kannst Reden halten. Ich habe mir gesagt: Du musst jetzt hier mal ran. Das ist ein Schatz, Katrin, mach den Mund auf! Es wird niemand anders für dich tun. Und ich hatte ja auch keine Alternative. Was wäre die Alternative? Zuhause bleiben und RTL II schauen? Ich stand ja mit dem Rücken zur Wand! Für mich war das wirklich eine Flucht nach vorn, das Gefühl, du musst jetzt loslaufen, da hilft dir keiner! Ich bin losgelaufen, habe viel gearbeitet – und bin angekommen.”
Katrin Langensiepen war von 2011 bis 2019 Mitglied im Rat der Stadt Hannover. Seit Mai 2019 ist sie Mitglied im Europäischen Parlament. Sie ist unter anderem Vize-Vorsitzende im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten und stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten mit Verantwortung für die Regionen Syrien und Subsahara-Afrika.
Mehr Informationen zur Kampagne gibt es hier: www.deinratzaehlt.de