Wenn die politisch Engagierten mit Behinderungen fehlen

Das sollten Kommunen im Blick haben, wenn sie politische Teilhabe fördern möchten
Es gibt eine Aussage, die wir als Projektteam schon öfter gehört haben, wenn es um die mögliche Gründung eines Behindertenbeirats oder ähnlichen Vertretungsgremiums von Menschen mit Behinderungen geht: „Bei uns gibt es gar keine - oder zumindest nicht genug - Menschen mit Behinderungen, die sich engagieren wollen.“ Stimmt das tatsächlich? Und woran kann es liegen, dass die Beteiligung ausbleibt? Eines können wir vorwegnehmen: Dass es wirklich daran liegt, dass in Ihrer Kommune keine Menschen mit Behinderungen leben, ist in den meisten Fällen unwahrscheinlich. Aber was sind dann die möglichen Gründe? Einige Gedanken unseres Projekt-Teams von "Politische Partizipation Passgenau!" zu diesem Thema.Haben Sie wirklich alle angesprochen?

Haben wir wirklich alle angesprochen? Photo by Adam Solomon on Unsplash
- Barrierefreiheit: Sind die Informationen, die Sie streuen, für alle barrierefrei? Ein guter Leitgedanke ist das 2-Sinne-Prinzip: Sie sollten versuchen, immer mindestens zwei verschiedene Sinne anzusprechen. Das heißt konkret: digitale und analoge Einladungen oder Informationsschreiben bereitstellen, Infos in einfacher bzw. Leichter Sprache und in häufig vorkommenden Fremdsprachen verbreiten und auch eine telefonische sowie schriftliche Kontaktmöglichkeit für Rückfragen angeben.
- Wie groß ist Ihr Einladungskreis? Haben Sie die Selbsthilfegruppen, -vereine und -verbände vor Ort in Ihren Prozess eingebunden? Mal abgesehen davon, dass sich hier möglicherweise Interessierte befinden, können Sie hier wichtige Unterstützer*innen und Multiplikator*innen finden. Weitere Anlaufmöglichkeiten sind Selbsthilfekontaktstellen, die Ergänzenden Unabhängigen Teilhabe-Beratungs-Stellen (EUTBs), allgemeine Beratungsstellen vor Ort, alle Einrichtungen und Träger der Behindertenhilfe vor Ort (Wohnheime, Werkstätten, Tagesstätten, Förderschulen, Kontaktstellen, Anbieter ambulanter Dienste, ortsansässige Fach-/Rehakliniken, …)
- Verbreiten Sie Ihr Anliegen an strategisch passenden Stellen: Aushänge oder Informationsmaterial können Sie an hoch frequentierten öffentlichen Stellen platzieren (z. B. in Bürgerbüros, im Sozial- oder Jugendamt, im Jobcenter, in Supermärkten, in gastronomischen Betrieben, in Bürger- und Stadtteilhäusern, in Arztpraxen, in Apotheken, usw.)
- Ermöglichen Sie den Themen-Einstieg: Das Thema “Kommunalpolitik” ist für viele Menschen sehr abstrakt. Welche Themen werden hier bearbeitet? Welche Möglichkeiten der Beteiligung habe ich als Bürger*in? Was kann ich erreichen und ist meine Meinung und mein Engagement überhaupt wirklich gewollt? Bevor Sie konkret zur Beteiligung aufrufen, kann es sinnvoll sein, eine Informationsgrundlage zu schaffen. Das geht digital auf der eigenen Website, in den sozialen Medien, mit Erklärvideos, das geht analog mit Flyern, Anschreiben, Beratungsangeboten oder auch mit einer öffentlichen Informationsveranstaltung. Diese könnte hilfreich sein, um einer größeren Gruppe zu signalisieren: Wir wollen, dass Sie sich beteiligen. Und, um gleichzeitig eine Wissens-Grundlage zu schaffen, sich und die relevanten Ansprechpartner*innen vorzustellen und erste Fragen zu klären. Barrierefreiheit beachten: barrierefreie Räumlichkeiten und barrierefreie Kommunikationsmittel (z. B. Gebärdensprachdolmetscher*innen o. ä. ermöglichen).
Der Blick zurück: Wie war das bei uns in der Vergangenheit mit der Beteiligung?
Eine Reflexion der ortsspezifischen Entwicklung kann hilfreich sein, um zu analysieren, warum die Resonanz der eingeladenen Menschen mit Behinderungen möglicherweise gering ausfällt:- Einerseits: Gab es eventuell in der Vergangenheit negative Vorerfahrungen, die die Menschen im Bereich ehrenamtliches Engagement gemacht haben? Oder gab es negative Erfahrungen mit öffentlichen Stellen, die zu einem Vertrauensverlust geführt haben?
- Andererseits: Gibt es historisch gewachsen eine besonders starke Vertretung einer bestimmten Gruppe/von bestimmten Personen? Was bedeutet das für die Teilhabechancen anderer Gruppen/Personen?
- In Deutschland gibt es eine lange Tradition der Exklusion und Fürsorge im Umgang mit Menschen mit Behinderungen: Sie kamen im öffentlichen Raum und den Diskursen nicht vor und selbst wenn sie sich einbrachten, wurden ihre Meinungen und ihre Expertise nicht auf Augenhöhe wahrgenommen und wertgeschätzt.
- Viele Menschen mit Behinderungen machen bis heute diese Erfahrung. Mehr noch: Sie verbringen im Zweifelsfall einen Großteil ihres Lebens in Sonderstrukturen: Wohnen im Wohnheim, besuchen die Förderschule und später die Werkstatt. Paternalistische, also bevormundende, Umgangsformen und ein erlernter gegenseitiger Ausschluss aus der jeweils eigenen Lebenswelt zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen stehen somit der Selbstvertretung von Menschen mit Behinderungen bis heute an vielen Stellen im Weg.
- Mit Selbstvertretung und Selbstwirksamkeit haben viele Menschen mit Behinderungen noch keine oder nur wenige Erfahrungswerte sammeln können.
- Es gehört also einiges dazu, sich aus diesen Strukturen zu lösen und seiner Stimme politisch Gehör zu verschaffen bzw. für die eigenen Interessen einzutreten. Auch die oft fehlende politische Bildung in Förderschulen spielt hierbei eine Rolle: Menschen mit Behinderungen wird häufig Wissen rund um das politische System und Möglichkeiten der Beteiligung nicht vermittelt.
- Das Vertrauen darin, dass die eigene Stimme zählt und dass es sich lohnt, sich einzubringen muss sich gegebenenfalls erst aufbauen und positive Erfahrungen müssen gemacht werden.
Der Teilhabebericht NRW zeigt: Grundsätzliches Interesse ist da

Das Interesse ist da, die Beteiligung bleibt aus. Photo by Marcos Luiz Photograph on Unsplash
Politisches Engagement ist voraussetzungsreich

Für viele ist politisches Engagement voraussetzungsreich. Es braucht Zeit, Wissen und Selbstvertrauen. Für viele Menschen mit Behinderungen kommen zahlreiche Barrieren hinzu.
Was können kleine Gemeinden machen?
Wir gestehen ein: In einigen Fällen kann es tatsächlich an fehlenden potenziellen Interessierten liegen. In kleinen Gemeinden, in denen insgesamt wenige(r) Menschen leben, kann es deshalb sinnvoll sein, sich beispielsweise auf Kreisebene zusammenzuschließen oder gemeinsam mit allen oder einigen Nachbargemeinden eine Interessenvertretung zu gründen. Außerdem bieten sich Behindertenbeauftragte als Interessenvertretung an, wenn es noch nicht genug Engagierte für ein Gremium gibt: Denn hier braucht man erst mal nur eine Person. Diese kann dann im Rahmen ihrer Arbeit weiter darauf hinarbeiten, dass vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt ein Gremium gegründet werden kann.Je inklusiver eine Kommune wird, umso mehr Chancen bietet sie zur Beteiligung
