Wenn die politisch Engagierten mit Behinderungen fehlen
Das sollten Kommunen im Blick haben, wenn sie politische Teilhabe fördern möchten
Es gibt eine Aussage, die wir als Projektteam schon öfter gehört haben, wenn es um die mögliche Gründung eines Behindertenbeirats oder ähnlichen Vertretungsgremiums von Menschen mit Behinderungen geht: „Bei uns gibt es gar keine – oder zumindest nicht genug – Menschen mit Behinderungen, die sich engagieren wollen.“
Stimmt das tatsächlich? Und woran kann es liegen, dass die Beteiligung ausbleibt? Eines können wir vorwegnehmen: Dass es wirklich daran liegt, dass in Ihrer Kommune keine Menschen mit Behinderungen leben, ist in den meisten Fällen unwahrscheinlich. Aber was sind dann die möglichen Gründe? Einige Gedanken unseres Projekt-Teams von „Politische Partizipation Passgenau!“ zu diesem Thema.
Haben Sie wirklich alle angesprochen?
Bleibt das Interesse aus, lohnt die Prüfung der folgenden Fragen:
Welche Menschen mit Behinderungen aus Ihrer Kommune haben Sie wie angesprochen und zur Beteiligung eingeladen? Dabei können folgende Ideen helfen:
- Barrierefreiheit: Sind die Informationen, die Sie streuen, für alle barrierefrei? Ein guter Leitgedanke ist das 2-Sinne-Prinzip: Sie sollten versuchen, immer mindestens zwei verschiedene Sinne anzusprechen. Das heißt konkret: digitale und analoge Einladungen oder Informationsschreiben bereitstellen, Infos in einfacher bzw. Leichter Sprache und in häufig vorkommenden Fremdsprachen verbreiten und auch eine telefonische sowie schriftliche Kontaktmöglichkeit für Rückfragen angeben.
- Wie groß ist Ihr Einladungskreis? Haben Sie die Selbsthilfegruppen, -vereine und -verbände vor Ort in Ihren Prozess eingebunden? Mal abgesehen davon, dass sich hier möglicherweise Interessierte befinden, können Sie hier wichtige Unterstützer*innen und Multiplikator*innen finden. Weitere Anlaufmöglichkeiten sind Selbsthilfekontaktstellen, die Ergänzenden Unabhängigen Teilhabe-Beratungs-Stellen (EUTBs), allgemeine Beratungsstellen vor Ort, alle Einrichtungen und Träger der Behindertenhilfe vor Ort (Wohnheime, Werkstätten, Tagesstätten, Förderschulen, Kontaktstellen, Anbieter ambulanter Dienste, ortsansässige Fach-/Rehakliniken, …)
- Verbreiten Sie Ihr Anliegen an strategisch passenden Stellen: Aushänge oder Informationsmaterial können Sie an hoch frequentierten öffentlichen Stellen platzieren (z. B. in Bürgerbüros, im Sozial- oder Jugendamt, im Jobcenter, in Supermärkten, in gastronomischen Betrieben, in Bürger- und Stadtteilhäusern, in Arztpraxen, in Apotheken, usw.)
- Ermöglichen Sie den Themen-Einstieg: Das Thema “Kommunalpolitik” ist für viele Menschen sehr abstrakt. Welche Themen werden hier bearbeitet? Welche Möglichkeiten der Beteiligung habe ich als Bürger*in? Was kann ich erreichen und ist meine Meinung und mein Engagement überhaupt wirklich gewollt? Bevor Sie konkret zur Beteiligung aufrufen, kann es sinnvoll sein, eine Informationsgrundlage zu schaffen. Das geht digital auf der eigenen Website, in den sozialen Medien, mit Erklärvideos, das geht analog mit Flyern, Anschreiben, Beratungsangeboten oder auch mit einer öffentlichen Informationsveranstaltung. Diese könnte hilfreich sein, um einer größeren Gruppe zu signalisieren: Wir wollen, dass Sie sich beteiligen. Und, um gleichzeitig eine Wissens-Grundlage zu schaffen, sich und die relevanten Ansprechpartner*innen vorzustellen und erste Fragen zu klären. Barrierefreiheit beachten: barrierefreie Räumlichkeiten und barrierefreie Kommunikationsmittel (z. B. Gebärdensprachdolmetscher*innen o. ä. ermöglichen).
Der Blick zurück: Wie war das bei uns in der Vergangenheit mit der Beteiligung?
Eine Reflexion der ortsspezifischen Entwicklung kann hilfreich sein, um zu analysieren, warum die Resonanz der eingeladenen Menschen mit Behinderungen möglicherweise gering ausfällt:
- Einerseits: Gab es eventuell in der Vergangenheit negative Vorerfahrungen, die die Menschen im Bereich ehrenamtliches Engagement gemacht haben? Oder gab es negative Erfahrungen mit öffentlichen Stellen, die zu einem Vertrauensverlust geführt haben?
- Andererseits: Gibt es historisch gewachsen eine besonders starke Vertretung einer bestimmten Gruppe/von bestimmten Personen? Was bedeutet das für die Teilhabechancen anderer Gruppen/Personen?
Eine Hürde fußt in der gesamtgesellschaftlichen Geschichte: Nicht nur die ortsspezifische Entwicklung, auch die allgemeine Historie des Umgangs mit Menschen mit Behinderungen in Deutschland hilft dabei, zu verstehen, warum eine mögliche Beteiligung ausbleibt:
- In Deutschland gibt es eine lange Tradition der Exklusion und Fürsorge im Umgang mit Menschen mit Behinderungen: Sie kamen im öffentlichen Raum und den Diskursen nicht vor und selbst wenn sie sich einbrachten, wurden ihre Meinungen und ihre Expertise nicht auf Augenhöhe wahrgenommen und wertgeschätzt.
- Viele Menschen mit Behinderungen machen bis heute diese Erfahrung. Mehr noch: Sie verbringen im Zweifelsfall einen Großteil ihres Lebens in Sonderstrukturen: Wohnen im Wohnheim, besuchen die Förderschule und später die Werkstatt. Paternalistische, also bevormundende, Umgangsformen und ein erlernter gegenseitiger Ausschluss aus der jeweils eigenen Lebenswelt zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen stehen somit der Selbstvertretung von Menschen mit Behinderungen bis heute an vielen Stellen im Weg.
- Mit Selbstvertretung und Selbstwirksamkeit haben viele Menschen mit Behinderungen noch keine oder nur wenige Erfahrungswerte sammeln können.
- Es gehört also einiges dazu, sich aus diesen Strukturen zu lösen und seiner Stimme politisch Gehör zu verschaffen bzw. für die eigenen Interessen einzutreten. Auch die oft fehlende politische Bildung in Förderschulen spielt hierbei eine Rolle: Menschen mit Behinderungen wird häufig Wissen rund um das politische System und Möglichkeiten der Beteiligung nicht vermittelt.
- Das Vertrauen darin, dass die eigene Stimme zählt und dass es sich lohnt, sich einzubringen muss sich gegebenenfalls erst aufbauen und positive Erfahrungen müssen gemacht werden.
Der Teilhabebericht NRW zeigt: Grundsätzliches Interesse ist da
Trotz der bisher genannten möglicherweise hinderlichen Faktoren besteht bei Menschen mit Behinderungen ein ähnlich großes Interesse an Politik wie bei Menschen ohne Behinderungen. Das zeigt auch der aktuelle Teilhabebericht NRW. Frauen mit Behinderungen haben sogar ein höheres Interesse an Politik als Frauen ohne Behinderungen. Auch bei der Wahlbeteiligung von Menschen mit und ohne Behinderungen zeigt sich kein nennenswerter Unterschied.
Was die tatsächliche Beteiligung betrifft, so zeigen die Zahlen des Teilhabeberichts: Menschen mit und ohne Behinderungen engagieren sich in NRW etwa in gleich hohen oder auch gleich niedrigen Anteilen aktiv in der Politik. (zwei Prozent der Menschen mit Behinderung, drei Prozent der Menschen ohne Behinderung). 94 Prozent der Menschen mit Behinderungen und 92 Prozent der Menschen ohne Behinderungen engagieren sich nie aktiv politisch.
Allerdings wird im Teilhabebericht nicht genauer aufgeschlüsselt, um welche Formen der Behinderung es sich handelt. Das ist insofern relevant, weil unterschiedliche Behinderungen unterschiedlich stark von der wirksamen politischen Teilhabe ausgeschlossen werden. Eine Übersetzung von Rats- und Ausschusssitzung oder auch regelmäßigen Arbeits- und Gremientreffen in Gebärdensprache ist in den Kommunen zum Beispiel noch nicht die Regel, wäre aber für viele Menschen mit Hörbehinderung Voraussetzung, um überhaupt dem politischen Diskurs folgen zu können. Auch Menschen mit Lernschwierigkeiten dürften im Verhältnis noch deutlich weniger in den politischen Strukturen zu finden sein. Hierzu bemerkt der Teilhabebericht NRW selbst, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten beim gesamten Bericht untererfasst sind.
Ebenfalls ungeklärt bleibt im Teilhabebericht die Frage, zu welchen Anteilen Menschen mit Behinderungen mit einem politischen Mandat (also z. B. als Ratsmitglied) oder ohne ein politisches Mandat (z. B. in einem Behindertenbeirat) politisch aktiv sind. Politische Aktivität im Rahmen eines politischen Mandats ist häufig wirksamer, weil direkt mitentschieden werden kann als eine politische Aktivität ohne Mandat, bei der nur ein indirekter Einfluss auf Entscheidungen möglich ist. Es ist zu vermuten, dass Menschen mit Behinderungen häufiger als Menschen ohne Behinderungen ohne Mandat politisch aktiv sind.
Politisches Engagement ist voraussetzungsreich
Trotzdem gibt es natürlich keine „Partizipations-Pflicht“. Sich ehrenamtlich zu engagieren, ist voraussetzungsreich. Man braucht neben dem eher passiven Interesse an Politik auch aktive Ressourcen, wie etwa genügend Zeit. Das gilt für Menschen mit und ohne Behinderungen. Fehlendes aktives politisches Engagement und fehlender Nachwuchs für Parteien oder Gremien ist damit auch ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.
Für Menschen mit Behinderungen ist die Beteiligung durch bestehende bauliche und einstellungsbedingte Barrieren in vielen Fällen noch voraussetzungsreicher. Barrieren auf dem Weg zu einer Sitzung oder einem Treffen, Barrieren zu notwendigen Informationen und im zwischenmenschlichen Kontakt durch Berührungsängste und Vorurteile machen den Weg zu einem politischen Engagement deutlich hürdenreicher.
Mehr zum Thema Barrieren im Bereich der politischen Partizipation finden Sie in unserem FAQ auf unserer Projekt-Seite.
Was können kleine Gemeinden machen?
Wir gestehen ein: In einigen Fällen kann es tatsächlich an fehlenden potenziellen Interessierten liegen. In kleinen Gemeinden, in denen insgesamt wenige(r) Menschen leben, kann es deshalb sinnvoll sein, sich beispielsweise auf Kreisebene zusammenzuschließen oder gemeinsam mit allen oder einigen Nachbargemeinden eine Interessenvertretung zu gründen. Außerdem bieten sich Behindertenbeauftragte als Interessenvertretung an, wenn es noch nicht genug Engagierte für ein Gremium gibt: Denn hier braucht man erst mal nur eine Person. Diese kann dann im Rahmen ihrer Arbeit weiter darauf hinarbeiten, dass vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt ein Gremium gegründet werden kann.
Je inklusiver eine Kommune wird, umso mehr Chancen bietet sie zur Beteiligung
Unabhängig davon, ob es nun eine aktive Interessenvertretung in Form von Beauftragten, Beiräten oder anderen Formen gibt oder nicht: Kommunen sollten ohnehin eine Entwicklung in Richtung mehr Inklusion einschlagen, denn von inklusiven Lebensbedingungen, die niemanden ausschließen, profitieren langfristig alle in der Kommune. Und manchmal ist der Start dieser Entwicklung auch nötig, um Türen für Bürger*innen zur Kommunalpolitik zu öffnen und so den Weg in eine künftige politische Beteiligung zu ebnen.
Tipp
Viele anschauliche Beispiele und praktische Tipps, wie man Beteiligung barrierefrei ermöglichen und inklusive Settings schaffen kann, bietet die Broschüre „Überall dabei – Ehrenamt barrierefrei. Erfahrungen und Tipps zum Engagement von Menschen mit Behinderungen“.